Interview mit der Leiterin der Suchtberatungs- und -behandlungsstelle
Suchtberaterin warnt: "Man kann sich in Kamenz alle Drogen beschaffen"
Illegale Drogen stehen auf Platz 2 der Gründe, warum Menschen zur Suchthilfe in Kamenz kommen. Die hatte 2022 weniger Klienten als zuvor. Wieso das keine Entwarnung bedeutet, sagt Leiterin Simone Mattukat im Interview.
Von Lucy Krille
Simone Mattukat arbeitet schon seit vielen Jahren in der Suchtberatungsstelle der Diakonie in Kamenz. Von manchen ihrer Klienten hat sie schon die Eltern betreut. © Foto: Anne Hasselbach
Kamenz. Abhängigkeit ist eine ernst zu nehmende Erkrankung, das erlebt Diplom-Psychologin und Psychotherapeutin Simone Mattukat immer wieder. Sie leitet seit fast 30 Jahren die Suchtberatungs- und -behandlungsstelle der Diakonie in Kamenz. Außer in der Hauptstelle an der Fichtestraße beraten die Mitarbeiterinnen auch in Königsbrück und Radeberg.
Frau Mattukat, die Zahl der Fälle in Kamenz und Umgebung ist gesunken. Während es 2020 noch 599 Klienten und Klientinnen waren, hatten Sie im Jahr 2022 nur noch 529. Ist das ein gutes Zeichen?
Nein, denn wie viele Betroffene zu uns kommen, lässt keinen direkten Rückschluss auf das Ausmaß der Suchtprobleme in der Bevölkerung zu. Es gibt Studien, dass nur zehn Prozent der Suchtkranken überhaupt im Hilfesystem ankommen. Ein Drittel unserer Klienten meldet sich selbst bei uns, weitere zehn Prozent werden durch ihr Umfeld auf uns aufmerksam. Ansonsten werden Menschen durch Krankenhäuser, Jugendamt, Jobcenter und Bewährungshelfer vermittelt. Doch das ist weniger geworden.
Warum?
Während Corona wurde weniger vermittelt. Der persönliche Kontakt hat gefehlt, Ämter waren geschlossen und die Hürden größer, zur Beratung zu gehen oder eine stationäre Behandlung zu absolvieren. Das muss sich erstmal wieder einspielen, und wir versuchen, die Zusammenarbeit jetzt wieder zu stärken. Aus meiner Sicht ist der Hilfebedarf auf keinen Fall zurückgegangen.
Nach Alkohol, worum es in 318 Fällen ging, waren illegale Drogen der häufigste Grund, zur Suchtberatung zu kommen. Wo gibt es Brennpunkte?
Wenn man will, kann man sich in Kamenz und Umgebung alles beschaffen. Man kennt sich in einer kleinen Stadt, es gibt aber keine offene Szene. Manche holen sich in Bautzen und Dresden ihre Drogen, andere fahren direkt nach Tschechien.
Crystal ist die häufigste illegale Droge, wegen der Menschen zur Beratung kamen. 42 Personen ließen sich aber auch wegen Cannabis beraten. Wie stehen Sie zu der bundesweit geplanten Legalisierung?
Cannabis wird in der Öffentlichkeit ein Stück weit bagatellisiert. Eine Droge wird anders bewertet, wenn sie legal ist, da guckt keiner mehr so differenziert. Und wenn sie mehr konsumiert wird, wird es auch mehr Abhängige geben. Beim Alkohol, einem legalen Suchtmittel, sieht man ja, dass das Problem da auch nicht kleiner ist, im Gegenteil. Bei beiden Drogen entwickeln etwa drei bis fünf Prozent der Konsumenten eine Abhängigkeit. Dabei sind Kinder und Jugendliche deutlich mehr gefährdet.
Auf der anderen Seite muss ich auch manchmal mit dem Kopf schütteln hinsichtlich der Kriminalisierung und Stigmatisierung von Suchtkranken. Vielleicht wären die für die Strafverfolgung nötigen Gelder besser für die Suchtprävention investiert.
Ein großes Problem, so schreiben Sie in Ihrem Jahresbericht, sind sogenannte Doppeldiagnosen. Was hat es damit auf sich?
In diesen Fällen leiden Personen unter einer Abhängigkeit und einer psychischen Erkrankung. Es gibt psychisch Erkrankte, die bemerken Symptome und suchen ein Suchtmittel, um sich selbst zu heilen. Das funktioniert aber nur eine kurze Zeit. Es gibt aber auch Fälle, in denen es andersherum ist. Eine Psychose kann zum Beispiel durch Drogen ausgelöst werden. Es ist wichtig, sich dann fachliche Unterstützung zu suchen.
In der Suchthilfe werden auch die psychischen Aspekte berücksichtigt, oder wir unterstützen dabei, eine angemessene Hilfe zu finden. Der Zugang zu einer ambulanten oder stationären Psychotherapie ist oft mit großen Hürden und langen Wartezeiten verbunden. Eine richtige Psychotherapie funktioniert ohnehin erst, wenn die Leute nicht mehr konsumieren.
Wie lange warten Menschen bei Ihnen auf einen Termin?
Dringende Anliegen versuchen wir, immer noch in derselben Woche oder spätestens in der Woche darauf zu klären. Dafür bieten wir auch wöchentlich Mittwoch von 10 bis 12 Uhr eine offene Sprechzeit an, zu der man ohne Termin kommen kann. Wenn es einen speziellen Berater braucht oder man nur zu bestimmten Zeiten kann, dann kann es auch vier bis sechs Wochen dauern.
Welche Gruppenangebote haben Sie in der Suchtberatungsstelle Kamenz?
Wir bereiten Menschen, die ihren Führerschein wegen Alkohol oder Drogen verloren haben, für die Medizinisch-Psychologische Untersuchung vor. Außerdem bieten wir zweimal pro Woche Ohr-Akupunktur an. Bei beiden Gruppen sind im Vorhinein Einzelgespräche erforderlich, um zu klären, ob das Angebot passt.
Wir haben eine Nachsorgegruppe, um bei der Stabilisierung der Abstinenz nach einer Entwöhnungsbehandlung zu unterstützen. Und wir arbeiten mit den Selbsthilfegruppen in der Region zusammen, bei uns im Haus der Diakonie Kamenz, in unserer neuen Begegnungsstätte treffen sich regelmäßig der Suchtkrankenhilfeverein und das Blaue Kreuz.
Das Angehörigenseminar haben wir dieses Jahr gestrichen und beraten die Angehörigen jetzt individuell. Es ist nicht so einfach, sie zu einem regelmäßigen Angebot zu motivieren, das ist manchmal schwieriger als bei den Betroffenen.
Welche Auswirkungen haben Flüchtlingsströme, wie etwa aus der Ukraine, auf Ihre Arbeit?
Ich denke, da wird der Beratungsbedarf noch steigen. Wir können es hier aber nicht händeln, schwer traumatisierte Menschen zu beraten, spezielle Therapieplätze sind ja jetzt schon rar. In der Region fehlt es an einer Struktur für die Trauma-Therapie. Auch die Sprachbarriere ist ein großes Problem. Mit Englisch oder einer App geht schon manches, aber Therapie lebt von Sprache.